Das Schloss am Abgrund

Im Grödnertal gab es hoch am Berg einen alten Handelsweg, den „Heidenweg“. Dieser Weg wurde von einer Burg beherrscht. Der Schlossherr presste den Händlern für die Durchreise hohe Abgaben ab oder warf sie in das Burgverlies, bis für sie Lösegeld bezahlt wurde.

Alle Versuche, diese Burg zu erobern, scheiterten. Es ging das Gerücht um, dass es beim Bau der Burg nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte, weil die Burg ausgesetzt und so uneinnehmbar auf einem Felsvorsprung über dem Abgrund „Pinkan“ lag. Auch Wind und Wetter und Erdrutsche konnten der Burg seltsamerweise nichts anhaben.

Auf der Burg lebte auch Gardis, die Enkelin des Schlossherren, um deren Gesundheit der Schlossherr immer sehr besorgt war. Gardis machte nach und nach eine Reihe von merkwürdigen Beobachtungen. Immer in Vollmondnächten zog unten vom Grundstein her ein Wort durch die Burg bis in die obersten Zinnen. Anschließend erklang ebenfalls vom Grundstein her ein furchtbares Seufzen und gleichzeitig ein vielstimmiges Geschrei, als ob Menschen versuchten, dieses schreckliche Seufzen zu übertönen.

So entdeckte Gardis, dass ihr Vater unten im Verlies über dem Grundstein Menschen gefangen hielt. Beim Versuch, diese Männer zu befreien, stürzt sie selbst ins Verlies. Dort erklären ihr die Gefangenen das schreckliche Burggeheimnis. Die Worte der Vollmondnächte ergeben hintereinandergestellt einen Spruch: „Unter dem Grundstein dieses Schlosses ist eine Jungfrau eingemauert, und wenn in dem Schlosse wieder einmal eine Jungfrau stirbt, so muss das ganze Schloss zusammenstürzen!“

Gardis’ Großvater bekommt seine Enkelin wieder aus dem Verlies, aber um den Preis, dass er die Gefangenen zuerst nach oben ziehen muss. Beim anschließenden Handgemenge werfen die befreiten Gefangenen den Schlossherren selbst ins Verlies. Auch Gardis, die ihrem Großvater helfen will, stürzt wieder in das Verlies und erleidet dabei schwere innere Verletzungen. Die befreiten Gefangenen ziehen wieder beide aus dem Verlies, da der Großvater unten im Verlies damit droht, seine Enkelin Gardis, eine Jungfrau, zu töten, und die befreiten Männer wissen ja um das Burggeheimnis.

Nicht nur die befreiten Gefangenen, auch alle Knappen und Bediensteten fliehen jetzt rasch von der Burg, die junge Enkelin ist ja tödlich verletzt. Doch trotzig hält der Burgherr bei seiner Enkelin, die im Sterben liegt, aus. Um Mitternacht bei Vollmond – es ist gerade das letzte Wort des Spruches „Zusammenstürzen“ an der Reihe – stirbt Gardis, und die ganze Burg mit Burgherr und Enkelin stürzt für immer in den Abgrund „Pinkan“.

Quelle: Wikipedia